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  • AutorenbildMattis Bischoff

Behandlung und Selbstmanagement chronischer Schmerzen

Aktualisiert: 2. März 2023

Die Behandlung langanhaltender Schmerzen ist ein kompliziertes Unternehmen, das oftmals für Therapeuten und Patienten frustrierende Ergebnisse liefert. Dieser Umstand spiegelt sich in den steigenden Zahlen von Patienten mit chronischen oder persistierenden Schmerzen wider, die in den nächsten zwei Jahrzehnten noch weiter ansteigen und das Gesundheitssystem vor eine kaum zu meisternde Herausforderung stellen sollen (Caneiro et al., 2021).

Insbesondere Patienten mit Rückenschmerzen neigen dazu, von Beschwerden zu berichten, die länger als drei Monate andauern und damit als chronisch gelten. Doch rund die Hälfte aller Patienten mit anhaltenden Schmerzen berichten zusätzlich von anderen Körperteilen/-regionen, die ebenfalls mit Schmerzen verbunden werden (Mansfield et al., 2016). Zusätzlich zu variierenden Lokalisationen gehen zur Schmerzsymptomatik häufig Komorbiditäten wie Depression, Übergewicht, Bewegungsangst und Bluthochdruck (Saccò et al., 2013) einher.


Dieser Beitrag soll für ein besseres Verständnis gegenüber den Faktoren sorgen, die im Zuge des Übergangs von akuten zu chronischen Schmerzen elementar sind. Schließlich sollen Management-Strategien für Personen mit chronischen Schmerzen und praktizierende Therapeuten vorgestellt werden. Dabei wird der Schwerpunkt weniger auf einzelne Techniken oder Interventionen gelegt, sondern vielmehr soll ein Behandlungsrahmen aufgezeigt werden, der an Cognitive Functional Therapy angelehnt ist und verschiedene Optionen zulässt sowie kontraproduktive Botschaften verhindern soll. Außerdem werden viele Theorien und Modelle nur grob skizziert, einerseits um den Lesefluss zu gewährleisten und um andererseits den Rahmen des Artikels nicht zu sprengen - allerdings sind diese Themengebiete für interessierte Leser mit weiterführenden Links zu zusätzlichen Informationen verknüpft.


Initiales Ereignis

Regelmäßig erfahren wir schmerzhafte Ereignisse, manche schwerwiegender als andere. Und diese größeren Ereignisse, wie ein „Hexenschuss“ oder ein Bandscheibenvorfall – unabhängig davon, ob durch Bewegung ausgelöst oder spontan – können sich auf viele Elemente in unserem Leben auswirken: Durch Schmerzen bei gewissen Bewegungen oder Aktivitäten werden diese Bewegungsmuster mit der Zeit immer weiter eingeschränkt, was ebenfalls zu einer generellen Reduzierung von Bewegung führt. Diese vermiedenen Bewegungsmuster werden fortwährend mit Schmerzen assoziiert, sodass über die Wochen, Monate oder teilweise auch Jahre hinweg eine Konditionierung stattfindet, die Teil des Bewegungsverhaltens und der Person wird. Genauer wird diese Konditionierung im „common-sense-model“ dargestellt. Hierbei durchläuft die leidtragende Person durch die Manifestation eines Symptoms den Prozess einer Sinnfindung:

  1. Die Identität des Schmerzes: Was löst den Schmerz aus?

  2. Die Ursache des Schmerzes: Weshalb tritt der Schmerz auf?

  3. Die Konsequenzen des Schmerzes: Was wird eingeschränkt sein?

  4. Die Bewältigung des Schmerzes: Kann ich den Schmerz kontrollieren? Bin ich auf Hilfe angewiesen?

  5. Die Dauer des Schmerzes: Wie lange wird dieser Schmerz wahrscheinlich andauern?

Die Antworten auf diese Fragen werden sehr individuell und geprägt von vorangegangenen Erfahrungen mit ähnlichen Symptomen und dem Gesundheitssystem sein. Allerdings spielen hier wahrscheinlich noch weiter zurückliegende Ereignisse eine Rolle wie beispielsweise elterliche Reaktionen auf schmerzhafte Ereignisse in der Kindheit (laissez-faire → protektiv → katastrophisierend). Doch auch der momentane Ist-Zustand einer Person beeinflusst diesen Prozess maßgeblich: Inwieweit habe ich gut geschlafen und bin gut ausgeruht? Habe ich in diesem Moment Zeit zur Verfügung, um das Ereignis nüchtern zu bewerten oder bin ich in Eile? Steht demnächst ein wichtiges Ereignis (Hochzeit, sportliches Event, Bewerbungsgespräch) an, das nun unmittelbar gefährdet ist?

Ausgehend von dem Prozess der Sinnfindung und den gegenwärtigen Einflussfaktoren wird eine Handlungsreaktion auf den initialen Schmerzausbruch eingeleitet. Deckt sich das Ergebnis der Handlung (in diesem Fall entweder Schmerzreaktion oder keine Schmerzreaktion) mit unseren Erwartungen, die vorher generiert wurden, bestärkt das unser Vertrauen in die entsprechende Handlung. Beispielsweise kann so eine bestimmte Bewegung wie das Bücken oder eine gewisse Gehstrecke vermieden werden, die seit dem Beginn der Schmerzepisode Symptome provoziert. Dieser Prozess ist dynamisch und wird im Laufe der Schmerzepisode permanent aktualisiert, sodass Bewegungen und Aktivitäten im Normalfall durch die natürliche Genesung mit der Zeit normalisiert werden, bis die Heilung abgeschlossen ist.


Werden nämlich die Wundheilungszeiten berücksichtigt (siehe Abb.1), dann sollten die meisten Beschwerden nach spätestens drei Monaten derart abgeklungen sein, dass ein Großteil der gewünschten Aktivitäten in einem angepassten Maßstab wieder aufgenommen werden können.


Abb.1: Wundheilungsphasen

Ursprünglich dient die Schmerzreaktion einer Fokussierung der Aufmerksamkeit darauf, damit pro-regeneratives Verhalten und Heilung gefördert wird. Allerdings steht an der Spitze der Prioritäten das Überleben des Organismus, demnach kann die akute Reaktion auf den Schmerzreiz je nach Kontext deutlich variieren: So berichten Soldaten von Schmerzfreiheit nach lebensbedrohlichen Verletzungen bis zum sicheren Rückzug aus dem Krisengebiet (Moseley, 2012). Auch in weniger kritischen Situationen zeigt sich der individuelle Kontext von Schmerz: Beispielsweise empfinden professionelle Violinespieler geringfügige Verletzungen an Fingern deutlich schmerzhafter als Tänzer, da dieser Finger einen höheren Stellenwert für die Musiker innehat (Moseley & Butler, 2006).


Übergang zu chronischen Schmerzen

Chronische Schmerzen hängen wahrscheinlich nicht stark mit tatsächlichen Schäden im Gewebe (Muskulatur, Knochen, Sehnen, Bandscheiben, Knorpel, …) zusammen. Dies zeigen verschiedene Umstände weiter auf: Beispielsweise die schlechten Ergebnisse einer Radiofrequenz-Denervation, bei der die Leitfähigkeit der Nerven durch den Eingriff in der Wirbelsäule unterbrochen wird (Juch et al., 2017) oder der Möglichkeit, Phantomschmerzen zu erfahren. Auch in akuten Situationen (z.B. Kopfschmerzen) ist dieser Umstand sichtbar.

Diese Prozessverarbeitung geht bei chronischen Schmerzpatienten noch weiter, indem die bloße Vorstellung von Bewegung zur gewohnten Schmerzreaktion und sogar zur Schwellung der betroffenen Region führen kann (Moseley, 2004). Hierbei spielen ebenfalls Erinnerungen eine zentrale Rolle, da bereits erlebte, bedrohliche Reize die Kontextualisierung eines ähnlichen Reizes völlig anders gestalten können, was eine grundverschiedene Schmerzreaktion fördern kann (Butler & Moseley, 2006).

Physiologisch lässt sich dieses Phänomen durch die Bildung von „Neurotags“ erklären: Dies sind Verbindungen zwischen einzelnen Neuronen, die nach der Hebbschen Lernregel umso öfter miteinander anbinden, je häufiger sie zusammen agieren. Durch Umwelteinflüsse und psychosoziale Umstände können eine durch Neurotags ausgelöste Hypersensibilität immer wiederkehrende Schmerzreaktionen hervorrufen. Dadurch wird ebenfalls das Bestreben des Gehirns verwirklicht, den Energieverbrauch durch die voraussagende Datenverarbeitung gering zu halten. Der momentane Zustand des Gehirns, das einen Patienten in gestresstem und schmerzgeplagtem Zustand repräsentiert, wird durch ökonomische Prognosen über die Zukunft stabilisiert, die sich in diesem Fall in ähnlichen Schmerzreaktionen zeigen, wie sie über die letzten Monate angehäuft und eingeprägt wurden (Alt, Herbst & Reis, 2018).


Diese Thematik wird im predictive-processing-Modell und der active-inference-Theorie näher untersucht. Das Fundament für diese Theorien ist die Annahme, dass der Überraschungsfaktor und der damit einhergehende Energieaufwand sensorischer Einwirkungen so gering wie möglich gehalten werden muss. Um dies zu ermöglichen, müssen permanent Annahmen generiert und überarbeitet werden, die mit unserer vergangenen und zukünftigen Interaktion mit der Umwelt übereinstimmen. So können beispielsweise Vorerfahrungen, die je nach Alter, Geschlecht, ethnischem Hintergrund oder sozioökonomischem Status durchaus unterschiedlich sein können, zu Unterschieden in der Schmerzwahrnehmung und den Schmerzreaktionen beitragen, die sowohl auf umfassendere Vorerfahrungen als auch auf persönliche Erfahrungen bei der Schmerzbehandlung zurückzuführen sind (z. B. können Personen von ihren medizinischen Leistungserbringern je nach Alter oder ethnischem Status unterschiedlich behandelt werden).

Dieses Modell stimmt mit Modellen des Annäherungs- und Vermeidungsverhaltens bei chronischen Schmerzen überein, bei denen die erwarteten Kosten und Belohnungen eines mit Schmerzen verbundenen Verhaltens abgewogen werden. Infolgedessen bieten bayesianische Konzepte einen geeigneten Rahmen zur Erklärung wiederkehrender maladaptiver Bewertungs- und Verhaltensmuster (z. B. Katastrophisierung, Vermeidung), die häufig mit Schmerzen einhergehen.


Dennoch weisen andere Forschungsgruppen weniger in eine neuro- und verhaltenspsychologische Richtung und ordnen der Neuroimmunologie einen deutlich höheren Stellenwert ein (Vergne-Salle & Bertin, 2021). Demnach würde eine entgleiste Interaktion zwischen neuroimmunologischen Zellen (Makrophagen, T-Zellen, Mastzellen, Neutrophile, Monozyten) und Nozizeptoren hauptverantwortlich für chronische Schmerzen sein.

Beide Theorien werden durch empirische Erkenntnissen gestützt: Zum einen sind negative Überzeugungen und Gedanken bezüglich der Schmerzen, die aus dem Prozess der Sinnfindung hervorgehen, der größte Einflussfaktor auf das Ausmaß der schmerzbezogenen Einschränkungen (Eccleston, 2001). Sollten diese Überzeugungen lange aufrechterhalten werden und folglich ein sogenanntes Bewegungsvermeidungsverhalten länger andauern als im Rahmen der physiologischen Heilungszeiten vorgesehen, stellt dies ab einem gewissen Zeitpunkt den Übergang zu einer Chronifizierung dar. Zusätzlich dazu steht eine hohe Schmerzintensität und damit verbundene Beeinträchtigung im Alltag zu Beginn der Schmerzepisode ebenfalls als größerer Risikofaktor für einen Übergang in einen chronischen Zustand als nur marginale Beschwerden (Stevans et al., 2021).

Zum anderen können mittels Positronen-Emissions-Tomographie lokal inflammatorische Marker ermittelt werden, die mittels gängiger Bildgebung nicht ausgemacht werden können. Dies spiegelt sich in einer Untersuchung wider, bei denen Personen nach einem Schleudertrauma einer Computertomographie unterliefen, die keine strukturellen Schäden vorweisen konnte. Abhängig von den Symptomen konnte die Positronen-Emissions-Tomographie allerdings auch nach sechs Monaten noch neuroimmunologische Auffälligkeiten in den knöchernen Strukturen der oberen Halswirbelsäule nachweisen.

Inwieweit die einzelnen Theorien zur Chronifizierung von Schmerzen letzten Endes gewichtet sind, ist momentan noch nicht klar zu beantworten. Ferner ändert dies nichts an der Tatsache, dass bedeutende Aspekte in unserem Leben, die für Gesundheit und Wohlbefinden essenziell sind, unter persistierenden Schmerzen leiden: Regelmäßige Teilnahme an sozialen Unternehmungen, körperliche Aktivität und ein gesundes Selbstbild.


Abb. 2: Circulus vitiosus

Aber an dieser Stelle muss ebenfalls die Interaktion von Patienten mit Leistungserbringern aus dem Gesundheitssystem berücksichtigt werden, die oft eine tragende Rolle im späteren Generieren und Aufrechterhalten von Überzeugungen hinsichtlich Ursache und (nicht) nützlichen Bewältigungsstrategien darstellen. Nicht umsonst hat sich mittlerweile der Begriff „iatrogene Rückenschmerzen“ herauskristallisiert, der nichts anderes bedeutet, als dass die Rückenschmerzen durch das Gesundheitssystem ausgelöst oder aufrechterhalten wurden. Folgende Tabelle verdeutlicht diesen Punkt sehr gut:


Tab.1: Unfundierte Interventionen erhöhen das Risiko persistierende Schmerzen zu erleiden (Daten aus Steven et al., 2021)

In der Untersuchung zu dieser Tabelle wurde herausgefunden, dass ein Mehr an nicht-leitliniengerechten Interventionen für Patienten mit Rückenschmerzen in einem höheren Risiko für eine Chronifizierung resultieren. Dies wird noch deutlicher, je häufiger eine Person mit verschiedenen Therapeuten und Ärzten interagiert und immer weitere potenzielle Ursachen für ihre Problematik erfährt, die oftmals keiner fundierten Basis entnommen sind. Dennoch erhält der Patient beständig neue Probleme vorgehalten, die zusätzlich zur Ursache des Schmerzes beitragen sollen und zwangsläufig die Behandlung beeinflussen. An dieser Stelle kann eine Abhängigkeit zum Therapeuten/Behandler stattfinden, falls die Behandlung ausschließlich von diesem/dieser angeboten wird. Solche Konzepte sind häufig nicht von Erfolg gekrönt, mit großem finanziellen Aufwand für die leidtragende Person und das Gesundheitssystem verbunden und entbehren einen Patienten seiner Selbstwirksamkeit. In diese Kategorie fallen auch überwiegend pathoanatomische Konzepte wie „Verkürzungen“, „Verklebungen“, Beinlängendifferenzen, Beckenschiefstände oder kinesiopathologische Vorstellungen wie optimale Muskelrekrutierungsmuster oder verletzungsfördernde Hebetechniken. Diese Faktoren sind entweder niemals nachgewiesen worden oder spielen nur in seltenen Ausnahmesituationen eine signifikante Rolle in der Schmerzerfahrung (Lederman). Dennoch liegt allzu oft das Hauptaugenmerk auf diesen Elementen.


Ein zusätzlicher Faktor, der diesen Umstand verstärkt, sind bildgebende Verfahren. Wenn bedacht wird, dass bereits 30% aller asymptomatischen 20-jährigen Personen Bandscheibenvorwölbungen im MRT vorweisen und diese Prozentzahl mit jeder zusätzlichen Dekade um ungefähr zehn Prozent zunimmt (Brinjikji et al., 2015), dann sollten degenerative Erscheinungen nicht leichtfertig mit Schmerzen in Verbindung gebracht werden. Außerdem festigen diese Informationen ein fragiles und verbrauchtes Selbstbild, obwohl diese Veränderungen an der Wirbelsäule eher als Norm denn als „Degeneration“ gesehen werden sollten. Infolgedessen kamen mehrere Untersuchungen (Webster et al., 2013; Sharim et al., 2021) zur Schlussfolgerung, dass eine Bildgebung bei Patienten mit Rückenschmerzen zu schlechteren Ergebnissen führt im Vergleich zu den Patienten, die keine Bildgebung erhielten. Nichtsdestotrotz haben bildgebende Verfahren durchaus ihre Berechtigung, sobald eine entsprechende Indikation (Verdacht auf maligne Ursache, Fraktur, etc.) besteht.


Neurophysiologische Aspekte von Schmerz

2020 wurde eine überarbeitete Version für die Definition von Schmerz seitens der International Association for the Study of Pain publiziert:


“Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“


Dadurch sollte betont werden, dass die bloße Beschreibung von Schmerzen respektiert und als ausreichend angesehen wird, um Schmerz nachzuweisen. Dies steht im Kontrast zum obsoleten biomedizinischen Modell, in welchem Schmerz zwangsläufig Ursache einer Verletzung oder Gewebeschädigung sein sollte – ansonsten sei der Schmerz auf psychische Ursachen zurückzuführen.

Weiterhin kann Schmerz in drei weitere Beschreibungen eingeteilt werden:


  1. Nozizeptiv: Schmerz, der durch eine tatsächliche oder drohende Schädigung von nicht-neuralem Gewebe entsteht und auf die Aktivierung von Nozizeptoren zurückzuführen ist. Nozizeptoren gehören zu den primär-afferenten Nervenfasertypen, genauer werden darunter die a-delta-Fasern sowie die c-Fasern als Nozizeptoren betitelt. Oft ausgelöst durch klassische Traumata, gut lokalisierbar, kaum ausstrahlende/nächtliche/einschießende Schmerzen.

  2. Neuropathisch: Schmerz, der bei Nervenverletzungen/-pathologien entsteht. Oft unilaterale Ausstrahlungen, vage dermatomal geprägt.

  3. Noziplastisch: Schmerzen, die durch eine veränderte Nozizeption entstehen, obwohl es keine eindeutigen Hinweise auf eine tatsächliche oder drohende Gewebeschädigung gibt, die zur Aktivierung der peripheren Nozizeptoren führt. Kann auch in Kombination mit nozizeptiven Schmerzen auftreten.


Diese drei Beschreibungen fungieren allerdings nur als Mechanismen, die Schmerzen hervorrufen können und sind nicht mit Schmerz gleichzustellen. Selbst bei akuten Verletzungen kann nicht ohne Weiteres die nozizeptive Ursache benannt werden: Unmittelbar nach einer Verletzung, beispielsweise einer Fraktur am Arm, sind verschiedene durch das Trauma ausgestoßene Zellbestandteile im Verletzungsgebiet, die zu einer inflammatorischen Antwort und einer peripheren Sensibilisierung führen. Im Rahmen dieser peripheren Sensibilisierung oder auch primären Hyperalgesie können nozizeptive Neuronen schneller und stärker aktiviert werden, was im protektiven Zustand einer akuten Verletzung sinnvoll ist.


Abb. 3: Afferente Impulse und Verarbeitung (Woolf, 2011)

Wandern diese Zellbestandteile und andere Stoffe über das Blut- und Lymphsystem zum Rückenmark und sensibilisieren die dortigen Neurone, kommt es zu einer sekundären Hyperalgesie. Im Kontext des zentralen Nervensystems wird dieser Umstand als „zentrale Sensibilisierung“ (siehe Abb. 4) benannt: Dabei können die Neuronen zweiter Ordnung im zentralen Nervensystem, welche nozizeptive Reize weiterleiten, schneller und stärker aktiviert werden – sowohl auf „normal-schmerzhafte“ (Hyperalgesie) als auch auf solche afferenten Reize, die eigentlich keine Schmerzen verursachen (Allodynie). Dadurch lässt sich eine zentrale Sensibilisierung mit einer weitläufigeren Hyperalgesie diagnostizieren: Unverhältnismäßige Schmerzen werden großflächig durch beispielsweise Pinselreize ausgelöst oder auch durch visuelle/akustische Reize (Licht-/Geräuschempfindlichkeit). Laut Gifford (2013) kann eine zentrale Sensibilisierung durch


  1. eine hohe Aktivität und verbesserten Effizienz von Nozizeptoren und damit einhergehenden exzitatorischen Neurotransmittern (Glutamat, Substanz P, …)

  2. eine Beeinträchtigung inhibierender Neurotransmitter im zentralen Nervensystem (Disinhibition)

  3. eine Aktivierung inaktiver Synapsen anderer sensorischer Fasern (beispielsweise a-beta-Fasern → Allodynie) oder

  4. epigenetische Veränderungen

fazilitiert werden.


Abb. 4: Afferente Impulse und Verarbeitung bei zentraler Sensibilisierung (Woolf, 2011)

Im Beispiel der Fraktur am Arm würde die Person nun nicht nur Schmerzen an der Frakturstelle haben, wahrscheinlich würde die ganze Extremität würde empfindlich und schmerbefangen sein. Zusätzlich empfindet der/die Leidtragende eine Mischung aus Abgeschlagenheit, Erschöpfung und Agitation. Aus dieser Fraktur könnte eventuell ein chronic regional pain syndrome hervorgehen. Ob die nozizeptive Quelle damit einzig und allein der Fraktur zugeordnet werden kann, auch wenn diese als Ursprung dient, ist spätestens im Rahmen einer Chronifizierung debattierfähig. Genauso können Rückenschmerzen nach sechs Monaten genau dieselbe Schmerzerfahrung darstellen, wie in der ersten Woche, jedoch hat sich der neurophysiologische Schwerpunkt von der Quelle verschoben.

Allerdings ist eine zentrale Sensibilisierung im Menschen noch nicht zweifelsfrei nachgewiesen worden und einige Forscher und Therapeuten hinterfragen den Mehrwert einer solchen Diagnose im Therapieprozess – übrigens genauso wie den Stellenwert der drei verschiedenen Schmerzbeschreibungen.


Einige Modelle versuchen die Komplexität des Themas „Schmerz“ zu skizzieren und sinnhaft wiederzugeben. Aus der 1965 begründeten gate-control-theory, die innerhalb der Schmerzwissenschaft als Erstes psychologische Komponenten als zentrale Elemente in der Wahrnehmung von Schmerzen inkludierte, hat sich das Modell der Schmerz-Neuromatrix hervorgetan. Dieses Modell verdeutlichte die Bedeutsamkeit supraspinaler Einflüsse auf die Schmerzerfahrung: Verschiedene neuroanatomische Regionen tragen zur Bewertung und Genese von Schmerzen bei (Abb. 5) und schließen somit das Konzept eines eindeutig lokalisierbaren „Schmerzzentrums“ aus.


Abb. 5: Schmerz-Neuromatrix

Mittlerweile haben viele Fachbereiche zur Erforschung von Schmerzen beigetragen und verschiedene Ansätze zur Definition und Ursache von Schmerzen eingebracht. Speziell in der Physiotherapie haben sich, basierend auf der Schmerz-Neuromatrix-Theorie, neurozentrische Konzepte entwickelt, die ihren Schwerpunkt auf eine edukatorische Komponente gelegt haben. In diesem Rahmen versuchen einige Verfechter ihren Patienten zu erklären, was Schmerzen sind. Doch wenn die subjektive Natur von Schmerzen und Limitationen der Sprache durch einen endlichen Wortschatz bedacht werden, kann niemand Schmerzen besser empfinden als der Patient selbst – auch wenn er diese verbal nicht im selben Ausmaß zum Ausdruck bringen kann. Deshalb sollte diese 160 Jahre alte Definition von Peter Mere Latham unbedingt berücksichtigt werden:


„Jedem, der darauf bestehen sollte, dass in Begriffen ausgedrückt wird, was Schmerz ist, würde es meiner Meinung nach als Antwort genügen zu sagen, dass er selbst ganz genau wüsste, was es ist und dass er es nicht besser wissen würde, wenn er es in Worte fassen könnte. Dinge, die jeder Mensch unfehlbar aus eigener Anschauung kennt, können nicht durch Worte klarer gemacht werden. Deshalb sollte man von Schmerz einfach als Schmerz sprechen.“


Behandlung von Schmerzen

Doch wie genau sollen diese Erkenntnisse auf dem Weg zur Schmerzfreiheit implementiert werden?

Dazu sollten alle möglichen Einflussfaktoren, die auf Schmerz einwirken können, berücksichtigt werden. Um diese ausfindig zu machen, eignet sich das biopsychosoziale Modell und vorliegendes, auf Cognitive Functional Therapy basierendes Konzept, die daraus hervorgehende Elemente (siehe Abb. 6) einbeziehen.


Biopsychosoziales Modell

Das biopsychosoziale Modell ist in den 1970er Jahren von George Engel hervorgegangen, der das prädominante biomedizinische Modell um einige Aspekte erweitern wollte, da der medizinischen Profession laut Engels ein kaltes, gefühlsarmes Bild anhaftete. Ferner bezeichnete Engel das biomedizinische Modell sogar als Dogma, da widersprüchliche Daten entweder exkludiert oder insofern angepasst wurden, als dass Krankheiten stets auf physische Ursachen zurückzuführen seien. Ähnliche Aussagen wurden bereits zuvor getroffen: Viktor Frankl (1962) vergleicht praktizierende Ärzte, die den Menschen hinter der Krankheit ausblenden, mit mechanischen Technikern, die das Wesentliche ausblenden. Auch wenn die Exklusion gewisser Elemente heute noch gängige Praxis in der Wissenschaft ist, um gezielte Untersuchungen vorzunehmen, sollte dieser Ansatz stets temporär und pragmatisch gehandhabt werden, um ein holistisches Gesamtbild zu generieren. Dies sei im biomedizinischen Modell so nicht praktiziert worden.

Insgesamt beschreibt der biopsychosoziale Ansatz Schmerz, Krankheit und Behinderung als dynamische Wechselwirkung und Interaktion zwischen physiologischen, psychologischen und sozialen Aspekten. Es verbindet eine philosophische Komponente, die darlegt, inwiefern Krankheit und Leid über viele Ebenen beeinflusst werden und dazu eine Art praktisches Verständnis, um zu verdeutlichen, dass des Patienten subjektive Erfahrung ein essenzieller Teil der Diagnose und Genesung ist. Weiterhin ist das biopsychosoziale Modell kein Paradigmenwechsel, sondern viel mehr eine Erweiterung seines Vorgängermodells (Borrell-Carrió et al., 2004).


Abb. 6: Biopsychosoziale Einflussfaktoren auf Schmerz und Rehabilitation

Anamnese

Zur Anamnese und Evaluierung patientenspezifischer Ziele und Motivation eignen sich Kommunikationsstrategien wie Motivational Interviewing. Hierbei liegt der Fokus auf offenen Fragen, reflektierendem Zuhören, den Stärken des Patienten und dem Unterbinden von ungefragter Belehrung und autoritären Anweisungen. Zusätzlich eignet sich Motivational Interviewing, um diverse Therapieoptionen vorzustellen und gemeinsam die geeignetste Intervention auszuwählen.

  • Die Geschichte des Patienten samt seiner Bedenken, Ängste und Ziele sollte angehört werden. Anhand der Elemente aus dem biopsychosozialen Modell sollten kontribuierende Faktoren ausfindig gemacht und entsprechend gewichtet werden. Dafür eignen sich entweder individuelle Fragen, die anhand der Patientenhistorie gestellt werden oder diverse Fragebögen (Orebro, STarT Musculoskeletal Screening Tool, StaRT Back).

  • Ein Patient, der nicht unterbrochen wird, redet in seinem anfänglichen Statement durchschnittlich 92 Sekunden (Langewitz et al., 2002). Diese Zeit sollte jeder Person gewährt sein, allerdings unterbricht ein Arzt nach durchschnittlich 18-23 Sekunden den Patienten (Danczak, 2014).

  • Das common-sense-Modell sollte zur Evaluierung der fünf Punkte (Identität, Ursache, Konsequenzen, Bewältigung, Dauer) genutzt werden. Dadurch können Informationen bzgl. Katastrophisierung, Coping-Verhalten (emotional und behavioral) und Krankheitsgeschichte gesammelt werden.

  • Die eingeschränktesten Aktivitäten von Bedeutung für den Patienten sollten identifiziert werden.

  • Erwartungen an die Therapie und die Symptome sowie Ziele des Patienten sollten in Erfahrung gebracht werden. Sobald Patienten von einer gewissen Intervention im Vorhinein überzeugt sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese wirksam ist, deutlich erhöht (Kalauokalani 2001; Bishop 2013). Dieses Wissen kann nützlich sein - auch, um eine therapeutische Allianz herzustellen. Noch dazu bewahrt es einen Patienten davor, langfristig utopische Vorstellungen gegenüber dem Therapieverlauf zu hegen.

Untersuchung

Eine adäquate körperliche Untersuchung sollte durchgeführt werden. Zudem sollen individuelle Reaktionen auf Schmerzen untersucht werden sowie Sensibilität in Hinsicht auf Berührung, Haltung, Bewegung und Belastung. Oftmals weisen Personen mit chronischen Schmerzen eine hohe muskuläre Anspannung bei eingeschränkten Bewegungsmustern auf (Santos et al., 2013; Smith et al., 2021). Dieser protektive Mechanismus ist wahrscheinlich eine konditionierte Fehlanpassung des Motokortex und kann zu einer höheren Schmerzintensität beitragen (Lima et al., 2018).

  • Die gefürchtete/eingeschränkte Handlung sollte identifiziert und observiert werden.

  • Protektive Mechanismen während dieser Handlung sollten inhibiert und physische Entspannung über die subjektive Körperwahrnehmung gefördert werden.

  • Die Sicherheit der Aufgabe sollte zuversichtlich vermittelt werden.

  • Die Handlung sollte angepasst erneut ausgeführt und mit der ursprünglichen Ausführung verglichen werden.

  • Eine graduelle Exposition sollte unter Berücksichtigung des emotionalen und schmerzbezogenen Zustands angestrebt werden. Dies kann über mehrere Ausführungen oder das Herunterbrechen der Bewegung in isolierte Teile durchgeführt werden.

  • Negative Erwartungen sollten durch das schmerzfreiere Bewegen von positiven, neuen Erfahrungen ersetzt werden.

  • Strategien zur Schmerzkontrolle und Flare-Ups sollten eingebracht werden. Hierzu eignen sich je nach Präferenz des Patienten Atemübungen (z.B. 7/11, Box Breathing), Visualisierungsverfahren und/oder Achtsamkeitsübungen in vorteilhaften Ausgangsstellungen. Genauer wird dieses Thema in „Selbstmanagement“ behandelt.

Kontrollierte Konfrontation

Hier soll der Patient durch Lernerfahrungen in gefürchteten, eingeschränkten, schmerzhaften oder schlichtweg vermiedenen Situationen langsam Modifikationen in seinem Alltag vornehmen. Diese Lernerfahrungen sollen durch die Präsenz und Instruktionen des Therapeuten eine sichere, geführte Atmosphäre haben, sodass später ebenfalls eine alleinige Konfrontation ohne Einschränkungen vonstattengehen kann. Noch dazu sollen diese Konfrontationen über verschiedene Parameter (beispielsweise Zeit, Frequenz, Abwesenheit des Therapeuten) graduell gesteigert werden. Um die Plastizität des Gehirns und der Nozizeptoren zu verdeutlichen, kann der Therapeut ebenfalls auf manuelle Techniken zurückgreifen, jedoch soll damit Bewegung vereinfacht und eine Abhängigkeit des Patienten danach vermieden werden.


Sinnhaftigkeit der Schmerzen verdeutlichen

Inkorrekte Überzeugungen gegenüber den Ursachen von Schmerzen können der Genesung im Weg stehen. Darum sollte eine Konversation stattfinden, die das Fundament dieser Überzeugungen ans Licht bringt und gegebenenfalls durch eine zeitgemäßere Erklärung ersetzt, die keine unbegründeten Nachteile birgt und nicht mit einem pessimistischen Selbstbild assoziiert wird (Verschleiß, Verkürzungen, Beinlängendifferenz, Ungleichheiten, …). Um ein Umdenken einzuleiten, eignen sich reflektierende Gesprächsmethoden wie der Sokratische Dialog. Auch verschiedene Patientengeschichten oder Ressourcen können dem Patienten zur Veranschaulichung angeboten werden. Allerdings können diese Überzeugungen ebenfalls durch nonverbale Edukation konfrontiert werden, indem beispielsweise neue Bewegungs- und Haltungsstrategien zu unerwarteten Ergebnissen in Bezug auf die Schmerzintensität führen.


Integration

Neue Bewegungsvariationen sollen in den Alltag integriert und manifestiert werden, um in anderen Umfeldern weiterhin positive Erfahrungen zu generieren. Dies beinhaltet Anpassungen an schmerzbefangene Bewegungsmuster, bis diese normalisiert und unbewusst durchgeführt werden können. Außerdem sollen Übungsprogramme und allgemeine Bewegung an den Aktivitätsstand des Patienten angepasst werden, um systemische sowie analgetische Effekte von Training auszunutzen und spezifische Einschränkungen dahingehend zu kompensieren. Jedoch werden nicht nur Aktivitäten einbezogen, sondern auch andere beitragende Kontextfaktoren, wie beispielsweise Schlafhygiene. Bei problematischer Umsetzung von Änderungen im Lebensstil werden auch Interventionen wie Tagebücher eingesetzt, um Elemente (zum Beispiel Aktivität, Schmerzauslöser oder Schlafgewohnheiten) festzuhalten, damit die Quantifizierung gewisser Parameter mit dem bewussten Prozess des Niederschreibens und der daraus resultierenden Auseinandersetzung mit dem Geschehen verbunden wird.


Langfristiges Selbstmanagement

Damit die Autonomie des Patienten gestärkt wird und kein kontinuierlicher, langanhaltender Therapiebedarf besteht, sollten vornherein gemeinsam messbare Therapieziele ermittelt und innerhalb eines Therapieplans festgehalten sowie das Selbstmanagement des Patienten in den Mittelpunkt gebracht werden. Dieses Selbstmanagement und dazugehörende Optionen sollen an dieser Stelle näher vorgestellt werden.


Abb. 7: Therapeutischer Prozess bei Selbstmanagement (Kongsted et al., 2021)
  • Unterstützung: Der Patient sollte bei Bedarf auf Hilfe zurückgreifen: Ärzte, Therapeuten, Familie.

  • Pacing: Körperliche Aktivität, Arbeitspensum und alltägliche Aufgaben sollten insofern angepasst werden, dass diese Unternehmungen machbar sind. Dies ist eine schmale Gratwanderung und nicht einfach. Oft sollte eine Pause gemacht werden, bevor der Gedanke zur Pause überhaupt aufkommt – insbesondere an verhältnismäßig guten Tagen. Auf der anderen Seite sollte Inaktivität nicht gefördert werden.

  • Priorisierung: Der Tag sollte angemessen geplant und anstehende Ereignisse priorisiert werden, um Flare-Ups oder höhere Schmerzlevel zu vermeiden. Eine Planung kann potenzielle Hürden oder ein zu hohes Pensum ausfindig machen, bevor es zu spät ist. Ähnlich wie mit einem Auto, das aufgetankt werden sollte, bevor der Tank leer ist.

  • Graduelle Exposition: Aktivitäten sollten schrittweise erhöht werden. Dies ist ähnlich wie Pacing, aber über einen größeren Zeitraum gesehen. Es können einige Wochen vergehen, bevor erste Anzeichen der Besserung auftauchen. Selbst dann sollte nach wie vor das Pensum nicht exponentiell erhöht werden.

  • Strategien zur Schmerzkontrolle - Atemtechniken

o 7/11 (schwer): 7 Sekunden durch die Nase einatmen, 11 Sekunden durch den Mund ausatmen, ...

o Box Breathing (mittel): 4 Sekunden einatmen, 4 Sekunden pausieren, 4 Sekunden ausatmen, 4 Sekunden pausieren, 4 Sekunden einatmen, …

o Triangle Breathing (einfach): 3 Sekunden einatmen, 3 Sekunden pausieren, 3 Sekunden ausatmen, 3 Sekunden einatmen, …

  • Strategien zur Schmerzkontrolle – Achtsamkeit

o Somatic Tracking/Interozeption: Erstens wird hier der Schmerz auf eine nüchterne, unvoreingenommene Weise betrachtet. Veränderungen in Lokalisation und Intensität werden in einer sicheren Umgebung observiert. Zweitens sollen dabei keine Angstgedanken aufkommen und nicht das Ziel der Schmerzlinderung im Vordergrund stehen, sondern die Beobachtung. Da Schmerzen oft mit Gefahr assoziiert werden, sollen durch die sachliche Betrachtungsweise bedrohliche Einflüsse gedämmt werden.

o Autogene Drainage: In Rückenlage wird zuerst die Aufmerksamkeit der Atmung zugewendet. Anschließend sollen umgebende Einflüsse wie Klamotten und Unterlage fokussiert werden. Schlussendlich widmet sich die Person verschiedenen Körperteilen, bis jedes Körperteil gedanklich observiert wurde.

o Radical Acceptance, Meditation, …

  • Individuelle Entspannung: Ähnlich wie die Strategien zur Schmerzkontrolle sollen hierbei Verfahren oder Aktivitäten ermittelt und ausgeübt werden, die zu Entspannung führen und schlichtweg gerne ausgeführt werden sowie keine Symptome provozieren. Allerdings steht hier keine Schmerzkontrolle im Fokus, sondern die bloße Ausübung und der Gefallen daran. Beispiele: Buch lesen, Musik anhören, Gartenarbeit, Freunde treffen, Entspannungsübungen, Yoga, Meditation, Tanzen, Spaziergänge, …

  • Körperliche Aktivität: Die WHO empfiehlt mindestens 150-300 Minuten aerobe Belastung sowie mindestens zwei dreißigminütige Krafttrainingseinheiten pro Woche – auch für Patienten mit Schmerzen. Jedoch sollte hier kein Zwangsgefühl aufkommen, da gesundheitsfördernde Effekte bereits mit einer geringfügigen Erhöhung der momentanen Aktivität aufkommen. Die Quintessenz lautet, dass jede zusätzliche Minute an körperlicher Aktivität positive Auswirkungen hat. Dieser Punkt lässt sich gut mit dem ersten Punkt, „Unterstützung“, kombinieren, da die Motivation und der Spaßfaktor gemeinsam größer sein können. Außerdem sind die sozialen Faktoren meist durch eine anhaltende Schmerzepisode stark beeinträchtigt, dementsprechend sollten Aktivitäten zweckmäßig mit dem Erhalt des sozialen Netzwerkes verbunden werden.

  • Flare-Ups als Lernerfahrung nutzen: Welche Faktoren könnten zu einem Wiederaufflammen der Schmerzen beigetragen haben? Weiterhin sollte der Fortschritt bis dahin nicht außer Acht gelassen werden: Flare-Ups passieren so gut wie immer im Therapieprozess, weshalb Louis Gifford von der Toblerone-Genesung (Abb. 8) spricht, da der Weg zur Besserung sehr selten linear verläuft.

Abb. 8: Toblerone als grafische Illustration für den Genesungsprozess (lukerickardsosteopath.net)

  • Fortschritt festhalten: Ein Tagebuch, das den individuellen Fortschritt skizziert, kann die Motivation aufrechterhalten. Zusätzlich kann ein solches Tagebuch als Lernerfahrung genutzt werden, um zu erkennen, welche Dinge noch nicht in diesem Ausmaß funktioniert haben. Nachfolgend ein beispielhaftes Vorgehen:

Aktivität

Was ist passiert?

Reaktion

Was werde ich anders machen?

1,5km gelaufen

Schmerz hat zugenommen

  1. kurze Pause

  2. überlegt, Medikamente zu nehmen

  3. nach Pause: Dehn- und Atemübungen

  1. besseres Pacing

  2. Gehstrecke anpassen

  3. Gehtempo anpassen

Einkaufen mit Freundin

Müdigkeit/Erschöpfung ++

  1. längere Pause

  2. Kaffee und Achtsamkeitsübung

  1. mich nicht ans Tempo der Freundin anpassen

  2. Freundin um Verständnis bitten

...

...

...

...

Eigene Grenzen erkennen

Bei Bedarf oder Indikation muss an einen Arzt oder psychologische Betreuung verwiesen werden.


Zusammenfassung

Im Rahmen einer fundierten Therapie bei chronischen Schmerzen müssen viele Faktoren berücksichtigt werden. Dabei sollte schnell der Gedanke losgelassen werden, dass hierfür der magische Griff oder die optimale Übung existiert. Initiale Schmerzereignisse sind wahrscheinlich nicht mehr Hauptgrund für die persistierenden Schmerzen und sobald red flags ausgeschlossen wurden sollte ein multidimensionaler, evidenzorientierter Ansatz genutzt werden. Inwiefern das Ganze in einem interdisziplinären System eingebettet aussehen kann, zeigt abschließend folgende Grafik:


Abb. 9: Interdisziplinärer Therapieprozess


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